"Die Geschichte hat mich irgendwie nicht abgeholt."
Ein Satz, den ich öfters lese. Schreiben würde ich solch einen Satz übrigens nie, höchstens als Persiflage auf Coach-und-Anlageberater-Sprech, also zerfaserter, aufgeblähter, substanzloser Schrott aus der ach so achtsamen Werbesprache; Dinge, die man viel griffiger ausdrücken könnte, würde man sich nicht dem herrschenden esoterisch-achtsamen Zeitgeist-Duktus anpassen wollen.
Wo lese ich diesen Satz? Tragischerweise in Rezensionen, denen zu meinen Büchern. Dabei ist meine Zielgruppe doch so klar umrissen! "Frauen ab Ende 20, pragmatisch, gebildet, mit Lebenserfahrung."
"Abgeholt?", denke ich und stutze, "wo, bitte, soll ich euch denn abholen?"
Aus der Konfi-Freizeit oder den Abiturvorbereitungen? Vom Busbahnhof? Aus der YA/NA-Abteilung bei Thalia? Von der J2 beim Kinderarzt vielleicht? Oder beim Einhorngehege im Fantasy-Zoo?
Ich habe mir Gedanken über die Frauen gemacht, für und über die ich schreibe und von denen ich möchte, dass sie meine Bücher lesen. Und mögen. Diejenigen also, die ich "abholen" möchte. Achtung, anschnallen, los geht die wilde Fahrt:
Ich hole grundsätzlich nur erwachsene Menschen ab, die gegebenenfalls ihren Kombi (oder das BMW-Cabrio) selbst fahren könnten.
Menschen vielleicht, die auf dem Rückweg vom Scheidungsrichter eine Aufmunterung brauchen.
Ich würde gern Frauen aus dem Yoga-Kurs abholen oder diejenigen, die gerade von der Tanzschule kommen: Salsa oder Tango vielleicht. Oder Charleston. Doch, ich hole gern jederzeit Mädels ab, die meinen, mit knapp 40 ruhig noch mal den Silberkurs angehen zu können.
Frauen, die gerade für ihre vierköpfige Familie einkaufen, wobei zwei dieser Köpfe schon in der Pubertät sein dürfen, hole ich auch gern ab; bevorzugt sogar.
Ich hole Frauen ab, die sich gerade mit ihrem Chef gezofft haben, weil sie sich nach ein paar Jahren Betriebszugehörigkeit nämlich nicht mehr alles bieten lassen müssen, da die Tage des Lehrlingsdaseins schon lange vorbei sind.
Ich hole euch von der Uni ab, sofern eure Prä-Bachelor-oder-Master-Zeit schon länger her sind.
Ich hole Frauen aus Kneipen ab, in denen man sich unterhalten kann, und zwar über Erwachsenenprobleme bei Erwachsenendrinks.
Ich hole euch mitsamt euren Freundinnen ab, nachdem ihr euch über den toxischen Typen mit dem nackten Brustkorb kaputtgelacht habt, oder über den, der unter der CEO-Dress nackt ist; Typen, die glauben, mit Unterwerfung und Arroganz punkten zu können, nur, weil zufällig die Chromosomen anders angeordnet sind.
Ich hole Frauen vom Flughafen ab, wenn sie gerade von einem zweiwöchigen Single-Trip zurückkommen, den sie mit selbstverdientem Geld bezahlt haben.
Ich hole meine Kolleginnen ab, die genau das erleben, worüber ich schreibe, und jede alleinerziehende Mutter.
Ich hole alle Frauen zwischen 30 und 50 ab, die gescheiterte Beziehungen hinter sich haben, die aber wissen, dass es immer weitergeht und man dazu keinen Kerl braucht.
Ich hole Frauen ab, die in den Wechseljahren sind und zurückblicken auf ein turbulente Zeit, die noch lange nicht zu Ende ist, auch wenn alle unter 45 das glauben und dann so mitleidig gucken.
Ich hole Frauen ab, die nicht ganz schlank sind und auch nicht perfekt sind, die sich aber prima im Leben zurechtfinden, weil sie pragmatisch, stolz und frei sind.
Ich hole jede Frau ab, die weiß, wie es sich anfühlt, nachts irgendwo auf der Straße zu stehen und sich zu fragen, wo um Himmels willen man denn falsch abgebogen ist, und ich meine damit nicht den Straßenverkehr.
Ich hole jede ab, die sich entschließt, nicht mehr zu allem Ja zu sagen und darauf verzichtet, ihr Nein zu begründen.
Ich hole jede ab, die ihren Mann steht und einen Mann gegebenenfalls auch mal stehen lässt, zum Beispiel, wenn er sich im Ton vergreift, dumme Bemerkungen macht oder immer noch nicht gerafft hat, was Catcalling ist.
Ich hole niemanden ab, der nur auf einer Welle reitet und es allen recht machen will, auch gegen die eigene Überzeugung.
Ich hole niemanden ab, der nicht notfalls selber weiß, wo es langgeht.
Ich hole Frauen ab, die wissen, dass man sich manchmal einfach trauen muss - einfach, weil es sonst keiner tut.
Ich hole Frauen ab, denn man über Mut nichts mehr erzählen muss, weil sie jeden Tag Mut beweisen.
Ich hole Frauen ab, die den Mund aufmachen.
Ich hole Frauen ab, denen Authentizität wichtiger ist als Anerkennung.
Ich hole die Frauen ab, denen Zufriedenheit wichtiger ist als Geld, und ich hole Frauen ab, die nicht auf Impulse warten, sondern eigene geben.
Ich hole Frauen ab, die selber Geschichten zu erzählen haben, weil ihr Leben welche schafft.
Ich hole euch nicht nur ab, sondern hebe euch auch auf, und zwar gut, aber nur, wenn ihr nachfühlen könnt, wie echtes Leben ist.
Frauen, die nicht fragen, sondern machen. Die keinen Filter brauchen, um sich rauszuwagen.
Frauen, die keine Krone brauchen, um wieder aufzustehen, und Frauen, die wissen, dass es dauert, so lange, wie es eben dauert.
Ich hole Frauen ab, denen Work-Life-Balance scheißegal ist, wenn sie etwas wirklich wollen.
Ich hole Frauen ab, die schon mitten drin sind statt immer noch kurz davor.
Frauen, die nicht bleiben, wenn sie lieber gehen wollen.
Frauen, die auch mal einen Fertigkuchen servieren.
Frauen, die die Piloten sind, nicht die Helikopter.
Ich hole Frauen ab, die das erste Drittel bereits gespielt haben.
Frauen, die Niederlagen kennen und trotzdem noch an den Sieg glauben. Frauen, die mitten in der Diät zu McDonald’s fahren. Frauen, die auf ihr Herz hören, aber den Verstand dabei nicht vergessen. Frauen, die keine Autobahn brauchen, um dahin zu kommen, wo sie hin wollen. Frauen, die sich etwas sagen, aber nichts verbieten lassen.
Ich hole jede Frau ab, die sich nicht hinter leeren Phrasen versteckt, aber welche erkennt, wenn sie sie sieht/hört.
Meine Protagonistinnen - Mary, Ivy, Eve, Kate und ganz besonders Jersey - sind solche Frauen, und sie sind klasse. Es gibt viele solcher Frauen, zum Glück.
Was für eine Frau bist du?
©MegMcGary 10/2024
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